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Der Mann von Bernuthsfeld

Bei der Moorleiche von Bernuthsfeld handelt es sich um das Skelett eines Mannes, das am 24. Mai 1907 zufällig beim Torfstechen entdeckt wurde. Die beiden Finder, die Brüder de Jonge aus Tannenhausen, verscharrten die Knochen zunächst wieder, weil sie befürchteten in einen Mordfall verwickelt zu werden. Der grausige Fund ließ sich jedoch nicht verheimlichen, so dass der örtliche Gendarm darauf aufmerksam wurde und das Amtsgericht in Aurich einschaltete. Die daran anschließende gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche ergab jedoch, dass hier kein Opfer eines aktuellen Gewaltverbrechens vorlag, sondern die sterblichen Überreste aus einer sehr viel älteren Zeit stammen mussten.

Es wurde der Auricher Archivrat Dr. Franz Wachter hinzugezogen, der sich als passionierter Altertumsforscher dem Studium der frühen Geschichte Ostfrieslands verschrieben hatte. Seiner gewissenhaften Arbeit ist es zu verdanken, dass nicht nur die genaue Fundstelle des Leichnams ermittelt werden konnte, sondern auch dessen Haarschopf, die komplette Kleidung sowie einzelne Gegenstände seiner Ausrüstung, wie eine lederne Messerscheide und ein Lederriemen zur Befestigung einer Reiterspore. Wachters Beobachtungen zufolge war der Tote in einer eigens ausgehobenen, rechteckigen Grube, deren Boden sorgsam mit Moos ausgepolstert war, regelrecht bestattet worden. Den vollständig bekleideten Toten hatte man in eine Decke gehüllt und mit leicht angewinkelten Gliedmaßen in Seitenlage auf das Moospolster gebettet.

Unmittelbar nach dem Zufallsfund begann eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit der Moorleiche von Bernuthsfeld. Ausgewiesene Pathologen und Archäologen, darunter Johanna Mestorf – die Begründerin der deutschen Moorleichenforschung – sowie der Hannoveraner Prähistoriker Hans Hahne versuchten das mögliche Aussehen des Mannes zu rekonstruieren. Die Ergebnisse dieser Forschung mündeten 1925 in einen abschließenden Bericht, der nach wie vor die wesentliche Grundlage unseres heutigen Kenntnisstandes darstellt. Demnach handelte es sich um einen höchstens dreißigjährigen Mann von etwa 1,65 m Größe und grazilem Körperbau. Als Todesursache wurde eine zertrümmerte linke Schädelhälfte angegeben. Daran knüpften sich in der Folgezeit mehrere Theorien zu den mutmaßlichen Todesumständen, die nicht selten anekdotenhaften Charakter hatten: So hielt man ein Tötungsdelikt ebenso für möglich, wie einen unglücklichen Sturz vom Pferd.

Rätselhaft blieben auch die Hintergründe der einsamen Bestattung mitten im Moor, zumal keine Spuren einer Siedlung im Umfeld bekannt sind. Trotz dieser Unklarheiten haben seit 1925 keine weiteren Untersuchungen zum Skelett der Moorleiche stattgefunden; sieht man einmal von einer C 14-Datierung der Haare ab, die ein Datum zwischen 680 und 774 n. Chr. ergab, sowie einer gründlichen Restaurierung der Kleidungsstücke, die als bedeutender Beleg frühmittelalterlicher Textilkunst gelten.

Vor einigen Jahren ist der Mann aus Bernuthsfeld, der von unseren Besuchern liebevoll „Bernie“ genannt wird, wieder in den Blickpunkt der aktuellen Moorleichen-Forschung geraten. Geplant ist in diesem Zusammenhang eine dreidimensionale Rekonstruktion, um ein lebensnahes Abbild des Mannes zu erhalten, einschließlich zahlreicher weiterer medizinischer, anthropologischer und paläopathologischer Untersuchungen mit Hilfe modernster Technik. Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass viele der bisherigen Annahmen und Vermutungen revidiert oder zumindest korrigiert werden müssen. Darüber hinaus sind zahlreiche weitere Aufschlüsse zu den Lebensumständen des Mannes im 8. Jahrhundert zu erwarten, wie beispielsweise seine Ernährungsgewohnheiten, etwaige Krankheiten, Mangelerscheinungen oder Besonderheiten am Bewegungsapparat.

Fest steht allerdings, dass mit dem Fundkomplex der Moorleiche von Bernuthsfeld ein für Ostfriesland und ganz Nordwestdeutschland einzigartiges kulturhistorisches Zeugnis am Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter zur Verfügung steht, das noch viele neue Einblicke in diese Epoche verspricht.